Seversk
Die Explosion der Atomanlage in Tomsk-7 führte zur radioaktiven Verseuchung einer Fläche von ca. 89 km², setzte Zehntausende Menschen einer erhöhten Strahlenbelastung aus und kontaminierte Luft, Wasser und Böden für viele Generationen. Diese Katastrophe ist vermutlich der folgenschwerste Atomunfall der Sowjetunion nach Tschernobyl und Majak.
Hintergrund
Bis in die 1990er Jahre beheimatete die westsibirische Stadt Tomsk-7, heute bekannt unter dem Namen Seversk, mehrere Anlagen zur Urananreicherung und Herstellung von Plutonium für russische Atombomben und zivile Atomreaktoren. Außerdem wurden abgebrannte Brennstäbe wieder aufbereitet. In der Stadt lebten etwa 100.000 Bedienstete und ihre Familien. Am 6. April 1993 ereignete sich in Tomsk-7 einer der folgenschwersten Unfälle der russischen Atomindustrie. An diesem Tag füllten Angestellte einen Atommülltank mit Salpetersäure, um Plutonium aus verbrauchten Brennstäben heraus zu trennen. Die genauen Gründe für den Unfall sind bis heute nicht vollständig geklärt, aber es wird vermutet, dass Unachtsamkeit der Belegschaft und das Nachgeben eines verschlossenen Abschlussventils dazu führten, dass innerhalb weniger Minuten die Mischung aus Salpetersäure, Uran und Plutonium kritische Temperaturen erreichte. Die darauf folgende Explosion zerstörte den größten Teil der Anlage und setzte ca. 250 m³ radioaktives Gas, 8,7 kg Uran und 500 g Plutonium in die Umgebung frei.
Die Gesamtmenge der ausgetretenen radioaktiven Partikel wird auf ca. 30 Tbq β - und γ-Strahlern beziffert (Tera = Billion), sowie ca. 6 GBq Plutonium-239 (Giga = Milliarde). 1.500 m² rund um die Anlage wurden schwer kontaminiert, doch insgesamt wurde eine Fläche von etwa 89 km² verseucht, da diese von radioaktivem Niederschlag betroffen war.
Die Explosion in Tomsk-7 wurde an Hand der Internationalen Bewertungsskala auf Stufe 4 eingeordnet – ähnlich hoch also, wie die Atomkatastrophe der Atomanlage Tōkai-mura 1999 in Japan.
Folgen für Umwelt und Gesundheit
Der Schnee, der über den Dörfern Nadezhda und Georgievka fiel, war radioaktiv belastet und so ergaben sich dort sogenannte 'hot spots' mit erhöhter Radioaktivität von bis zu 30 μGy/h (etwa 100-mal mehr als die normale Hintergrundstrahlung). In den verseuchten Böden wurde ein signifikanter Anstieg von langlebigen Radioisotopen wie Cäsium-137 und Strontium-90 gemessen. Cäsium -137 kann, wenn es über Nahrung, Wasser oder die Atemwege aufgenommen wird, solide Tumore und auch Gendefekte bei folgenden Gene rationen verursachen, während Strontium-90 zu Leukämie führen kann. Im Rahmen der Aufräumarbeiten wurde mit Unterstützung aus dem Ausland ca. 577 g Plutonium vom Gelände der Anlage entfernt. Bemerkenswert dabei ist, dass die Menge an Plutonium, die sich im explodierten Tank befand, mit lediglich 450 g angegeben wurde, so dass es nahe liegt, dass es schon vor dem Unglück Austritte von Plutonium in die Umgebung gegeben haben muss. In Schneeproben wurden noch Monate nach der Explosion erhöhte Werte der radioaktiven Stoffe Plutonium, Uran, Zirkonium, Ruthenium, Cerium, Niob und
Antimon gemessen. Diese stellen für die Bevölkerung eine kontinuierliche Strahlenbelastung dar.
Die Bellona Stiftung, eine norwegische Umweltorganisation, zählte insgesamt 30 Unfälle in der Atomanlage von Tomsk-7 und schätzt, dass pro Jahr etwa 10 g Plutonium in die Atmosphäre ausgetreten sein müssen. Außerdem dokumentierte sie große Mengen an radioaktivem Abfall, die sich während der 50-jährigen Betriebszeit der Anlage auf dem Gelände angesammelt hatten. In unterirdische Depots gekippt oder in maroden Auffangbecken unter freiem Himmel liegend, stellen die radioaktiven Hinterlassenschaften der Atomindustrie bis heute eine akute Bedrohung für die örtliche Bevölkerung dar.
2008 wurden in einer Studie sowohl in Boden- als auch in Wasserproben erhöhte Belastungen mit Plutonium und Cäsium-137 nachgewiesen – vermutlich ein Hinweis auf weitere Lecks
Ausblick
Dank des Abkommens zur Beendigung der militärischen Plutoniumproduktion zwischen Russland und den USA wurden im Juni 2008 einige Reaktoren in Tomsk-7 stillgelegt. Die Wiederaufbereitung von abgebrannten Brennstäben und die Deponierung von radioaktivem Abfall auf dem Gelände des heutigen Sibirischen Chemikalien Kombinats wird allerdings weiter fortgesetzt. Trotz erhöhter Konzentrationen von Plutonium, Strontium, Cäsium und anderer radioaktiver Substanzen in Boden und Wasser wurden keine aussagekräftigen medizinischen Studien in der Lokalbevölkerung durchgeführt. 2001 entschied das Verwaltungsgericht von Tomsk zugunsten verstrahlter Anwohner des Ortes Georgievka, die gegen das Sibirische Chemikalien Kombinat in Tomsk-7 geklagt hatten. Das Kombinat ist nun verpflichtet, jedem Kläger eine Entschädigung in Höhe von umgerechnet 860 US-Dollar zu zahlen. Während der laufenden Gerichtsverhandlungen sind laut der Bellona Stiftung 14 der 26 Klägern gestorben. Auch sie und die anderen Geschädigten durch die Radioaktivität von Tomsk-7 sind Hibakusha. Auch ihre Gesundheit wurde der Atomindustrie und der Produktion von Nuklearwaffen untergeordnet. (Quelle: Ausstellung „Hibakusha weltweit“)
Bearbeitungsstand: April 2014