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Massive Vergeltung

engl.: massive retaliation

Die ‚massive Vergeltung‘ galt als Konzept der nuklearen Abschreckung. Ein Angriff auf NATO-Staaten in Europa sollte mit einem massiven nuklearen Vergeltungsschlag beantwortet werden.

Am 12. Januar 1954 erklärte US-Außenminister John Foster Dulles, dass die USA seine Bündnispartner mit einer Abschreckung durch massive Vergeltung verteidigen würde. Obwohl er Atomwaffen in seiner Rede nicht erwähnte, wurde angenommen, dass er die nukleare Abschreckung meinte.

Die NATO übernahm die Strategie der massiven Vergeltung im Dezember 1954. Das NATO-Dokument MC 14/2 vom März 1957 sah einen raschen Rückgriff auf Atomwaffen bei nahezu jeder militärischen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion vor. Die Strategie beruhte auf der Annahme, dass die UdSSR zwar keinen Atomkrieg absichtlich beginnen würde, aber in Folge einer Fehlinterpretation westlicher Absichten oder durch das Ausufern einer ursprünglich begrenzten militärischen Operation, wäre die Gefahr vorhanden. Weil diese Gefahr die größte für NATO-Staaten darstellt, müsste das Bündnis darauf vorbereitet sein.

Im 3. Strategischen Konzept von 1957 ging das militärische Komitee davon aus, dass ein von der UdSSR ausgehender Krieg mit einer massiven, nuklearen Offensive beginnen könnte, die sehr rasch ausgeführt würde. Daher – egal, ob die UdSSR ihre Atomwaffen sofort einsetzen würde oder nicht – müsste die NATO ihre Atomstreitkräfte umgehend einsetzen, um einer raschen Übernahme der NATO-Staaten zu verhindern. Um „die Fähigkeit und den Willen der Gegner, einen allgemeinen Krieg zu führen, zu zerstören“ wäre „eine Reihe von sich gegenseitig bedingenden Land-, See- und Luftkampagnen von maximaler Intensität“ in der ersten und kritischen Phase auszuführen. Diese Phase sollte nicht mehr als 30 Tage dauern, „wobei die ersten Tage durch die größte Intensität des nuklearen Austauschs gekennzeichnet sind“.

Im Dokument MC 48/2, wurden die notwendigen Maßnahmen für eine massive Vergeltung aufgelistet. Entsprechend wurden ab Ende 1953 eine beträchtliche Anzahl taktischer Atomwaffen (Artilleriemunition, Bomben, Kurzstreckenraketen, Atomminen) in Europa stationiert, die Ende der sechziger Jahre die Zahl von etwa 2.500 taktische US-Atomwaffen erreichten. In den 1970er hatte die Zahl der Atomwaffen mit ca. 7.000 in Europa ihren Höhepunkt.

Die Aussage des stellvertretenden NATO-Oberbefehlshabers, General Bernard Montgomery Ende 1954, ließ keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Drohung, Atomwaffen einzusetzen: „Ich möchte absolut klarstellen, dass wir im SHAPE [NATO-Hauptquartier] alle unsere Einsatzpläne auf die Verwendung von atomaren und thermonuklearen Waffen zu unserer Verteidigung stützen. Bei uns heißt es nicht: ‚Sie werden vielleicht eingesetzt’, sondern es heißt sehr bestimmt: ‚Sie werden eingesetzt, wenn wir angegriffen werden’“. Bereits nur vier Jahre später, nachdem die UdSSR erfolgreich die Sputnik-Rakete gestartet hat und die USA damit bedrohen konnte, stellte Montgomery diese Bereitschaft wieder in Frage. Er fragte, ob es realistisch sei, zu erwarten, „dass der Westen seine nukleare Abschreckung als Waffe gegen die Städte Russlands einsetzt und im Gegenzug russische Vergeltungsmaßnahmen erhält, die das Vereinigte Königreich und die USA in den Ruin treiben würden?“ Er schloss: „Für uns wäre ein solches Vorgehen nationaler Selbstmord. Ich glaube nicht, dass es dazu kommen wird.“

Die Kennedy Administration begann 1961 mit einer detaillierten Analyse der Stärken und Schwächen einer massiven Vergeltung als Strategie. Diese Analyse zeigte, dass die Parität zwischen der konventionellen Streitkräfte der NATO und des Warschauer Paktes für den Westen nicht unvorteilhaft sei, da die Macht der sowjetischen Streitkräfte überschätzt werde und die der Nato-Streitkräfte unterschätzt. Darüber hinaus bestand große Unsicherheit darüber, ob und wie Atomwaffen zum Vorteil der NATO eingesetzt werden könnten. Daher autorisierte US-Präsident Kennedy 1962 seinen Verteidigungsminister Robert McNamara der NATO vorzuschlagen, die massive Vergeltung als Strategie mit einer neuen nuklearen Strategie zu ersetzen: die „flexible Antwort“ (flexible response). Erst nach einer langen Debatte adoptierte die NATO 1967 diese neue Strategie, festgelegt im Dokument MC 14/3.

Die sowjetische Militärdoktrin ging bis Mitte der sechziger Jahre ebenfalls von der Annahme aus, dass ein Krieg zwischen den Großmächten den Einsatz von Atomwaffen einschließen würde. Ebenso wie die USA, ging auch die UdSSR davon aus, in einer solchen kriegerischen Auseinandersetzung die Oberhand zu behalten und siegen zu können. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, angesichts einer gesicherten Zweitschlagsfähigkeit, setzte sich in der UdSSR offenbar die Auffassung durch, dass ein Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion nicht in jedem Fall zu einem Nuklearschlag gegen die UdSSR führen müsste. Zielorientierung war nicht mehr die Zerstörung Nordamerikas, sondern die Abschreckung eines Einsatzes der US-amerikanischen strategischen Nuklearwaffen. xh

Bearbeitungsstand: Januar 2024

Quellen:

Glass A: Dulles says U.S. to rely on massive nuclear retaliation, Politico, 12.01.2016
North Atlantic Military Committee: Overall Strategic Concept for the Defense of the North Atlantic Treaty Organization Area, MC14/2 (revised), 23.05,1957
North Atlantic Military Committee: Measures to Implement the Strategic Concept, MC 4872, 23.05.1957
Mendelsohn J: NATO’s Nuclear Weapons: The rationale for ‘No First Use’, Arms Control Today, Juli 1999
Montgomery B: Rede bei der Royal United Services Institute, in NATO: The Entangling Alliance, University of Chicago Press, 1962. Zitiert in Mcnamara R: The Military Role of Nuclear Weapons: Perceptions and Misperceptions, Foreign Affairs, 1983

 

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