Atomwaffen A-Z

THURLOW, Setsuko

1932 -

Setsuko Thurlow war 13 Jahre alt, als die USA am 6. August 1945 die erste Atombombe auf ihre Heimatstadt Hiroshima, abwarfen. Sie war 1,8 km vom Hypozentrum entfernt.

Setsuko konnte aus dem aus Holz gebauten Gebäude entfliehen, bevor es abbrannte. Nur sie und zwei andere ihre Kommilitoninnen überlebten. Acht Familienmitglieder starben bei der atomaren Bombardierung sowie mehr als 350 ihre Schulkameradinnen.

Setsuko ist bestens dafür bekannt, dass sie seit dem ersten Wasserstoffbombentest „Castle Bravo“ am 1. März 1954 stets für die Beendigung der Atomtests und für die Abschaffung aller Atomwaffen gearbeitet hat. Über all die Jahre hielt sie Vorträge als Zeitzeugin und mahnte vor den Gefahren der Atomwaffen. Zusammen mit Beatrice Fihn nahm Setsuko den Friedensnobelpreis 2017 für das weltweite Netzwerk von Partnerorganisationen ICAN entgegen.

Sie ist in Hiroshima am 3. Januar 1932 als Setsuko Nakamura geboren. Sie war die jüngste von sieben Kindern. Am 6. August, sie und 30 andere Schülerinnen der Jogakuin Oberschule hatten die Aufgabe, im japanischen Armeehauptquartier codierte Nachrichten der US-Streitkräfte zu entschlüsseln. Rückblickend sagte sie: „Man sieht, wie hoffnungslos die Kriegssituation war, wenn man bedenkt, dass eine so wichtige Aufgabe den Schülerinnen überlassen wurde.“ Sie befand sich im zweiten Stockwerk des Gebäudes, als sie den Blitz vom Feuerball sah. Gleich danach wurde sie ohnmächtig. Das Gebäude brach zusammen.

„Ich steckte zwischen eingestürzten Gebäudeteilen fest und konnte mich nicht bewegen – ich wusste, dass ich dem Tod ins Auge sah. Ich hörte das Jammern meiner MitschülerInnen: „Mutter, hilf mir!“ – „Gott, hilf mir!“ Da spürte ich Hände an meiner linken Schulter. Eine Männerstimme sagte: „Gib nicht auf – beweg Dich weiter! Ich versuch Dich hier raus zu kriegen. Kriech auf das Licht aus der Öffnung da oben zu – schnell!“ Als ich es geschafft hatte, standen die Trümmer schon in Flammen. Die meisten meiner Mitschülerinnen sind bei lebendigem Leibe verbrannt. Ein Soldat zeigte mir und zwei anderen Mädchen einen Fluchtweg in die nahegelegenen Hügel.“

Setsukos schreckliche Beschreibung von dem was sie sah und erlebte hat sie sehr oft in den letzten achtig Jahre erzählt, um klar zu machen, wie schlimm die Auswirkungen der Atombombe waren.

„Geisterhafte Gestalten strömten vorbei, aus dem Stadtzentrum trotteten sie in Richtung der nahegelegen Hügel. ‚Geisterhaft‘ sage ich, weil sie nicht wie Menschen aussahen. Ihr Haar stand zu Berge, sie waren nackt und zerrissen, blutig, verbrannt, schwarz und verschwollen. Körperteile fehlten, Fleisch und Haut hingen ihnen von den Knochen, manche hielten ihre Augäpfel mit den Händen, manchen hingen die Eingeweide aus dem offenen Bauch. Wir schlossen uns der gespenstischen Prozession an, vorsichtig stiegen wir über die Toten und Sterbenden. Im tödlichen Schweigen hörte man nur das Stöhnen der Verletzten und ihr Flehen nach Wasser. Der Gestank verbrannter Haut erfüllte die Luft.“

Keine Hilfe war für die verletzten Überlebenden vorhanden. Sie flohen mit den anderen Menschen zusammen zum Fluss, weil alle durstig waren und kein Wasser finden konnten.

„Den ganzen Tag sahen wir keine Ärzte oder Krankenschwestern. Als es dunkel wurde, saßen wir am Abhang und beobachteten die Stadt, die die ganze Nacht brannte – benommen von der Massivität des Leids und des Sterbens, deren Zeugen wir geworden waren (...) So verwandelte sich das geliebte Hiroshima in einen Ort der Verzweiflung, überall Berge von Asche und Schrott, Skeletten und schwarzen Kadavern.“

Setsuko beschrieb auch die akute Strahlenkrankheit, die sie und andere erlitten. Sie verlor ihre Haare, ihr war ständig übel und ihr Zahnfleisch blutete. Aber sie überlebte, anders als viele um sie herum, auch einige Familienmitglieder. Ihre Eltern überlebten auch und die Familie wurde von anderen Familienmitgliedern aufgenommen. Andere hatten nicht so viel Glück und waren obdachlos. Ihr Trauma zeigte sich erst als eine Art Taubheit; sie konnte nicht weinen bis ein Taifun die Ruinen von Hiroshima ein Monat später wieder verwüstete.

Setsuko studierte Englische Literatur und Erziehung an der Hiroshima Jogakuin Universität. Sie studierte Sozialarbeit in den USA 1954. In dieser Zeit wurde sie aktiv gegen die Atomtests. Sie wurde oft wegen ihrer Kritik in den USA angegriffen und konnte nicht zum Unterricht gehen. 1955 heiratete sie einen kanadischen Historiker, namens Jim Thurlow, den sie in Japan kennenlernte. Sie zogen nach Kanada und blieben dort, außer in den fünf Jahren von 1957 bis 1962, wo sie und ihr Mann in einem Sozialprojekt in Hokkaido, Japan, arbeiteten.

1974 gründete Setsuko eine Stiftung „Hiroshima Nagasaki Relived“, um Zeitzeug*innen zu mobilisieren, ihre Geschichten zu erzählen. Häufig reiste sie auch mit dem „Peace Boat“, einem Kreuzfahrtschiff, das um die Welt fährt, um Menschen über die Folgen von Atomwaffen und über nukleare Abrüstung aufzuklären. Sie redete mehrmals vor den Vereinten Nationen und bei Staatskonferenzen im Rahmen der Humanitäre Initiative über die Auswirkungen von Atomwaffen. Ihre zahlreichen Vorträge an Schulen im Rahmen des in New York ansässigen Projekts "Hibakusha Stories" haben das Leben Tausender von Schüler*innen tiefgreifend beeinflusst.

Sie wurde mehrmals ausgezeichnet: sie wurde Mitglied des „Order of Canada“ für ihren „außergewöhnlichen Beitrag zur Sozialarbeit und zu den Bemühungen um die Abschaffung von Atomwaffen“ (2006); sie bekam die Auszeichnung „Queen Elizabeth II Diamond Jubilee Award“ (2012); sie wurde „Friedensbotschafterin“ für Hiroshima-Stadt (2014); sie wurde „Rüstungskontrollperson des Jahres“ durch die Arms Control Association gewählt (2015), und vieles mehr.
Ihr Ehemann Jim Thurlow starb 2011. Er war ihr wichtigster Unterstützer und Vertrauter während ihres mehr als 50 Jahren andauernden antinuklearem Aktivismus.

2017 wurde die International Campaign to Abolish Nuclear weapons (ICAN) mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Setsuko war ein Gründungsmitglied der kanadischen Sektion von ICAN. Sie spielte eine wichtige Rolle in der Organisation und wurde daher ausgewählt, den Preis in Oslo am 10. Dezember im Namen aller Partnerorganisationen anzunehmen. Sie und die Direktorin von ICAN hielten die offiziellen Friedensnobelpreisvorträge.

„Wir haben uns nicht damit zufrieden gegeben, Opfer zu sein. Wir weigerten uns, auf ein sofortiges feuriges Ende oder die langsame Vergiftung unserer Welt zu warten. Wir weigerten uns, tatenlos zuzusehen, wie die so genannten Großmächte uns über die nukleare Dämmerung hinaus und rücksichtslos in die Nähe der nuklearen Mitternacht brachten. Wir sind aufgestanden. Wir erzählten unsere Überlebensgeschichten. Wir sagten: Menschlichkeit und Atomwaffen können nicht koexistieren.“

Setsuko lebt weiterhin in Kanada. Sie hat zwei Söhne und zwei Enkelkinder. xh

Bearbeitungsstand: August 2025

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Quellen:
Democracy Now: “I want the world to wake up”: Hiroshima survivor criticises Obama for pushing new nuclear weapons, Interview, 27.05.2016
ICAN: Setsuko Thurlow. Hiroshima survivor and ICAN campaigner, keine Datumsangabe, Seite abgerufen am 2. August 2025
IPPNW: Hiroshima. Nagasaki, Broschüre, 4. Auflage 2025
Ohkuma T: So tell me… about Hiroshima. Determined to keep telling her life story, Asahi Shimbun, 07.01.2015
Thurlow S: Ich habe die Bombe überlebt. Die Hibakusha Setsuko Thurlow erzählt, IPPNW-Forum, 2015  
Thurlow S: Nobel Peace Prize speech by ICAN campaigner, Hiroshima survivor Setsuko Thurlow, The Mainichi, 11.12.2017

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