Atomwaffen A-Z
USA | Modernisierung

B61-12: Die neue "Smart"-Atombombe der USA

15.01.2023

Die technische Entwicklung der thermonuklearen Atombomben B61-12 begann bereits 2012 als Teil eines Programms der sogenannten Lebensdauerverlängerung der US-Atomwaffen. Nach erfolgreichen Tests und einigen Verzögerungen startete die Serienproduktion der B61-12 im Mai 2022. Insgesamt sollen 400 Bomben für geschätzte Kosten von 7,6 Mrd. US-Dollar umgerüstet werden. 100 davon werden voraussichtlich ab 2023-2024 in Europa stationiert. Sie gelten dann als modernste Nuklearwaffen im Arsenal der US-Army.

Die B61-12 wurde entwickelt, um alle älteren Modelle der B61-Atombombe zu ersetzen. Als neuartige „Smart“-Bombe soll sie einige Eigenschaften der vorherigen Modelle behalten und den nuklearen Sprengsatz erhalten, aber sonst eine Reihe von neuen Eigenschaften wie Lenkfähigkeit und verbesserte Präzision haben. Ausgestattet mit einem Raketenmotor, einem beweglichen Heckteil und einem Navigationssystem mit Trägheitssensoren kann die neue Bombe nicht nur als eine ballistische Freifallbombe sondern auch als steuerbare Waffe eingsetzt werden. Sie soll eine hohe Abschusswahrscheinlichkeit und eine Zielgenauigkeit von nur 30 Metern haben.

Die herkömmlichen B61-Atombomben hatten bereits eine wählbare Sprengkraft von 0,3, 1,5, 10 und 50 bzw. 170 Kilotonnen TNT-Äquivalent. Die neue Bombe wird auch vier Optionen anbieten, jedoch maximal 45 Kilotonnen Sprengkraft entfalten können. Während die Entwickler von einem Sprengkopf mit niedriger Sprengkraft und minimalem Kollateralschaden sprechen, ist diese maximale Sprengkraft immerhin vier Mal größer als die der Hiroshima-Bombe.

Zudem soll die B61-12 wie bereits das Vorgängermodell – die B61-11 – als „Bunker-Buster“ mehrere Meter in das Erdreich eindringen und somit trotz geringerer Sprengkraft gezielt gegen tief liegende Bunker eingesetzt werden können.

Stationierungsorte

Die neuen US-Atombomben sollen in mindestens vier europäischen NATO-Staaten stationiert werden: Belgien, Deutschland, Italien und den Niederlanden. Noch ist unklar, ob andere Länder die neuen Bomben erhalten, wie z. B. die Türkei, Großbritannien oder Griechenland. Alle Länder sind mit Depots ausgestattet, in denen die Atombomben gelagert werden könnten.

Die Bomben sollen im Rahmen der nuklearen Teilhabe der NATO für den Einsatz bereitgehalten werden und ersetzen die geschätzten 100-150 alten B61-Atombomben. Die Praxis der nuklearen Teilhabe bedeutet, dass die teilnehmenden Staaten Militärpersonal und Trägersysteme für den Einsatz zur Verfügung stellen. Das Personal wird im atomaren Einsatz ausgebildet und nimmt an regelmäßigen Übungen teil. Ein solches „taktisches“ Geschwader ist auf dem Bundeswehrfliegerhorst Büchel in der Eifel (Rheinland-Pfalz) stationiert. Dort befindet sich auch US-amerikanisches Personal, das die Atombomben überwacht und wartet.

Weitere Stationierungsorte sind Klein Brogel (Belgien), Aviano sowie Ghedi Torre (Italien) und Volkel (Niederlande). Möglicherweise sind noch Atombomben in Incirlik in der Türkei stationiert. Die Orte und die Zahl der gelagerten Atombomben unterliegen der Geheimhaltung. Die Federation of Atomic Scientists (FAS) schätzt, dass je 20 auf den US-Stützpunkten Incirlik und Aviano sowie je 15 in Kleine Brogel, Büchel, Ghedi und Volkel stationiert sind.

Wegen umfassender Bauarbeiten auf dem Fliegerhorst Büchel wurde das Taktische Geschwader 33 nach Nörvenich verlegt. Hier wurden früher auch Atombomben stationiert und es existiert noch ein Depot. Laut FAS wurden die Atombomben von Büchel nicht nach Nörvenich verlagert. Möglich ist, dass sie jedoch bereits für die Umrüstung zur B61-12 teilweise oder gänzlich in die USA verlagert wurden. Der US-Stützpunkt Ramstein hat auch aktive Depots für Atombomben, die für die Zwischenlagerung genutzt werden könnten.

Trägersysteme

Die B61-12 wurde in Tests vom F-15E-Kampfjet abgefeuert, soll jedoch auch mit den B-2A, F-16C/D und F35A-Flugzeugen einsetzbar sein. Der Tornado (PA-200) kann die Bombe nur als Freifallbombe einsetzen. Verteidigungsministerin Lambrecht kündigte im März 2022 an, dass sich Deutschland für die F-35A (Joint Strike Fighter) von Lockheed Martin entschieden hat, um die alten Tornados zu ersetzen und die nukleare Teilhabe aufrecht zu erhalten. Die rund 7 Milliarden Euro für diese Anschaffung sollen aus dem Bundeswehrsondervermögen kommen. Verteidigungs- und Haushaltsausschuss des Bundestags bewilligten den Kauf im Dezember 2022. Erster Liefertermin soll erst 2026 sein.

Die Leiterin des NATO-Direktorats für nukleare Politik, Jessica Cox, sagte im April 2022: „Wir arbeiten mit Hochdruck an der Modernisierung der F-35 und beziehen diese in unsere Planungen und Übungen mit ein, sobald die entsprechenden Fähigkeiten online sind. Bis zum Ende des Jahrzehnts werden die meisten, wenn nicht alle unsere Verbündeten den Übergang vollzogen haben.“

Italien, Belgien und die Nederlande kaufen ebenfalls die F-35A, um ihre F-16-Kampfjets bzw. Tornados für die nukleare Teilhabe zu ersetzen. Im Juni 2022 wurde angekündigt, dass die ersten F-35A nach Ghedi Torre in Italien bis Ende 2022 geliefert werden. Weitere europäische Länder wie Polen, Dänemark, Norwegen, Großbritannien, Finnland und die Tschechische Republik kaufen ebenfalls die F-35A. Lockheed Martin erwartet 550 Bestellungen aus Europa bis 2030. Cox stellt sich vor, dass diese Länder atomare Einsätze mit diesen Kampfjets unterstützen könnten.

Laut Berichten vom Februar 2022 sollte die nukleare Zertifizierung des F-35A bis Januar 2024 erfolgen. Dafür müsste die Entwicklungszertifizierung ein Jahr vorgezogen werden und im Januar 2023 so weit sein, um die B61-12 einsetzen zu dürfen. Danach beginnt in Europa das operationelle Zertifizierungstraining für die nukleare Teilhabe.

Einsatz

Wie genau die Atombomben im Rahmen der nuklearen Teilhabe eingesetzt werden würden, ist ein Geheimnis. Da die Atomwaffen den USA gehören, muss der US-Präsident den Befehl zum Einsatz geben. Es wird aber vermutet, dass innerhalb der NATO ein Prozess abläuft, um den Einsatz zu bestätigen. Der Oberbefehlshaber der Bundeswehr im Verteidigungsfall ist der deutsche Bundeskanzler, der dem Befehl theoretisch widersprechen kann.

Über den operationellen Einsatz haben einige Forscher*innen geschrieben. Es dürfte künftig erst mal ähnlich ablaufen, wie bei den bisherigen B61-Bomben, bis zum Moment des Einsatzes selbst. D.h. die Flugzeuge werden über die Lagerungsgruben gefahren, die Bomben werden vom US-Personal hochgefahren und unter das Flugzeug montiert. Dann fliegen Bundeswehrpilot*innen sie zum Ziel, verteidigt durch andere begleitende Kampfjets (SNOWCAT) und setzen die Bomben ein. Neu hinzu kommt die Möglichkeit, die Bombe als „Stand-off“-Waffe einzusetzen, d. h. vom Ziel weiter entfernt als die herkömmliche Bombe. Der Einsatz wird jährlich bei der NATO-Übung „Steadfast Noon“ trainiert, zusammen mit der SNOWCAT-Luftunterstützung. Problematisch ist die Luftbetankung der Einsatzflugzeuge, die sonst nicht ihr Ziel erreichen können. Sobald die Flugzeuge sich nicht mehr in Gebieten mit allierter Lufthoheit befinden, setzt die feindliche Flugabwehr ein und eine Betankung ist nicht mehr möglich. Laut Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) ist es daher unklar, welche militärischen Ziele von Büchel aus überhaupt bekämpft werden könnten.

Völkerrecht

Die Praxis der nuklearen Teilhabe als Übertragung der Verfügungsgewalt von Atomwaffen an die Bundeswehr wird von vielen der Vertragsstaaten des Nichtverbreitungsvertrags als ein Verstoß gegen Artikel I und II des Vertrags und damit als rechtswidrig gesehen. Allerdings wird auf einen Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland hingewiesen, der eingereicht wurde, als die BRD den NVV im November 1969 unterzeichnete. Die Bundesregierung erklärte, dass sie davon ausgeht, „dass die Sicherheit der BRD durch die NATO gewährleistet bleibt“ und sie „ihrerseits den kollektiven Sicherheitsregelungen der NATO uneingeschränkt verpflichtet“ bleibt. Diese Interpretationsformulierung des Vertrags wurde damals unter den NATO-Mitgliedern abgesprochen.

Ein Sachstand der wissenschaftlichen Dienste des Bundestags von 2008 stellt die Frage, ob die Steuerung der mit US-Atombomben beladenen Flugzeuge eine Übertragung der „Verfügungsgewalt“ bedeute. Allerdings wird spätestens mit der digitalen Steuerung der Bomben aus dem Flugzeug diese Frage wieder fällig, es sei denn, diese würde durch US-Personal betätigt. Die Frage nach der Rechtmäßigkeit der nuklearen Teilhabe konnten die Dienste nicht vollständig beantworten.

Bearbeitungsstand: Januar 2023

►Weitere Informationen zu US-Atomstreitkräfte

Quellen:
IFSH: Nukleare Teilhabe in Deutschland, 2023
Airforce Technology: B61-12 Nuclear Bomb, 06.11.2020
NNSA: B61-12 Life Extension Program, 2021
Sprenger S: NATO planners put the F-35 front and center in European nuclear deterrence, Defense News, 13.04.2022
Kington T: New F-35A base in Italy to open by end of year, Defense News, 21.06.2022
Machi V: How the F-35 swept Europe, and the competition it could soon face, Defense News, 04.09.2022
Kristensen H: NATO Steadfast Noon exercise and nuclear modernization in Europe, FAS Blog, 17.10.2022
Kowalcze K und Nienaber M: Germany to receive F-35s in 2026 to rejuvenate air force, Bloomberg, 14.12.2022
DVIDS: F-35 Dual Capable Aircraft team meets goals ahead of schedule, 17.02.2022
Deutscher Bundestag, Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 1. Juli 1968 über die Nichtverbreitung von Atomwaffen, Drucksache 7/994, 10.09.1973
Wissenschaftliche Dienste: Nukleare Teilhabe und Völkerrecht, Sachstand, 28.08.2008
Kristensen H: U.S. Nuclear Weapons in Europe, NRDC, Feb 2005
Nassauer O und Piper G: Atomwaffen-Modernisierung in Europa. Das Projekt B61-12, atomwaffenfrei.jetzt/BITS, Sep 2012

zurück

Atomwaffen A-Z